Immer wieder gibt es anlässlich der der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen und der Errichtung eines notariellen Nachlassverzeichnisses auf der Auskunftsstufe Streit zwischen dem Erben und dem Pflichtteilsberechtigten. Das OLG München hat nun in einer interessanten Entscheidung die Rechte des Pflichtteilsberechtigten entgegen der überwiegenden Meinung in der Literatur und Rechtsprechung „zurechtgestutzt“. Das OLG München hat keine Rechtsbeschwerde zugelassen, sodass eine Klärung der kontrovers diskutierten Fragen durch den BGH vorerst nicht erfolgen wird. Im Bezirk des OLG München ist zu erwarten, dass die Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte nicht „stechen“, sondern der 33. Zivilsenat des OLG München auch in Zukunft in seiner jetzigen Auslegung vom Zuziehungsrecht des Pflichtteilsberechtigten ausgehen wird.
Kern der Entscheidung
Die Entscheidung des OLG München bezog sich auf folgende Aspekte des Rechts auf „Zuziehung bei der Aufnahme des Nachlassverzeichnisses“:
- Hat der Pflichtteilsberechtigte ein Anwesenheitsrecht bei den einzelnen Ermittlungshandlungen des Notars?
- Kann der Pflichtteilsberechtigte die Vorlage von Belegen verlangen oder sie zumindest einsehen („Blick über die Schulter des Notars“)?
- Darf der Pflichtteilsberechtigte in dem Termin, in dem das notarielle Nachlassverzeichnis förmlich errichtet wird, zugegen sein?
Besonderheiten
Die Notarin hatte vorliegend in mehreren Etappen (drei Nachträge) ein Nachlassverzeichnis erstellt. Da es zu Verzögerungen in der Errichtung gekommen war, war zwischendurch ein Zwangsgeld gegen die Erbin festgesetzt worden.
Rechtliches
Das Zuziehungsrecht des Pflichtteilsberechtigten gem. § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB ist in seiner Ausgestaltung und den Einzelheiten in Rechtsprechung und Schrifttum bislang nicht endgültig geklärt. Der Beschluss des OLG München läuft nun auf eine Entwertung des Zuziehungsrechts bei der Aufnahme des notariellen Nachlassverzeichnisses hinaus, da das Gericht die Rechte des Pflichtteilsberechtigten nahezu vollständig zusammenstutzt und sinnentleert. Die Begründung des OLG München überzeugt nicht, da das Zuziehungsrecht nach Lesart des Gerichts dem Pflichtteilsberechtigten keinerlei Erkenntnisgewinn zugesteht.
Rechtsnatur des notariellen Nachlassverzeichnisses
Das notarielle Nachlassverzeichnis sei eine Tatsachenbescheinigung über die Ermittlungen und Wahrnehmungen des Notars gem. § 36 BeurkG, die durch Errichtung einer öffentlichen Zeugnisurkunde erstellt werde; das Nachlassverzeichnis werde nicht verlesen und es gebe keinen Beurkundungstermin, so das OLG München noch zutreffend.
Kein schutzwürdiges Interesse des Pflichtteilsberechtigten
Zu diesem Termin der „finalen Errichtung“ habe der Pflichtteilsberechtigte kein schutzwürdiges Interesse, um bei dieser Tatsachenbescheinigung, die über das Ausdrucken eines Dokuments von Unterschriftsleistungen nicht hinausgehe, anwesend zu sein.
Das mag man auf den ersten Blick noch plausibel finden, da das OLG München aber gleichzeitig auch ein Anwesenheitsrecht des Pflichtteilsberechtigten bei den einzelnen Ermittlungshandlungen des Notars ausschließt, da dem Pflichtteilsberechtigten weder ein Mitwirkungsrecht noch ein Recht auf Einsicht in die Unterlagen zustehe und er dem Notar bei der Durchsicht der Unterlagen auch nicht „über die Schulter schauen“ dürfe, wird das Zuziehungsrecht vollständig beschnitten. Zu was für einer Handlung des Notars oder zu welchen Schritten der Verzeichniserstellung wird der Pflichtteilsberechtigte dann noch hinzugezogen? Das OLG München lässt dies offen. Eine „Zuziehung bei der Aufnahme“ hatte auch nicht dergestalt stattgefunden, dass von der Notarin dem Pflichtteilsberechtigten ein Entwurf des Nachlassverzeichnisses mit der Gelegenheit zur Stellungnahme oder der Möglichkeit für Einwendungen übermittelt worden war. Dies hätte eine Zuziehung im weitesten Sinne dargestellt, war aber nicht erfolgt.
Dass ein notarielles Nachlassverzeichnis auch aus einzelnen Teilverzeichnissen bzw. Nachträgen bestehen kann, ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn diese in der Gesamtschau schlüssig und verständlich sind. Vorliegend hatte vor der Zwangsgeldfestsetzung ein Gespräch mit ungeklärtem Inhalt stattgefunden. Da die Notarin den Pflichtteilsberechtigten nach der Titulierung des Anspruchs bei den weiteren Nachträgen den Pflichtteilsberechtigten nicht hinzugezogen hat, rügte er, dass sein Zuziehungsrecht in der Gesamtschau eindeutig verletzt worden sei. Auch dies verneinte das OLG München letztlich mit dem Argument, bereits erbrachte Teilleistungen verlören mit einer nachfolgenden Titulierung nicht ihre Wirksamkeit. Dabei übersieht das OLG jedoch, dass das Zuziehungsrecht sich auf die „Gesamtleistung notarielles Nachlassverzeichnis“ erstreckt, von der der Antragsteller mangels seiner Zuziehung nach Titulierung jedoch keine Kenntnis erlangen konnte, sodass sein Zuzíehungsrecht verletzt wurde.
Blick über die Schulters des Notars wird abgelehnt
Der berühmte „Blick über die Schulter“ des Notars findet in der Praxis meist durch Rückfragen des Notars zu weiteren Ermittlungstätigkeiten statt, wenn diese dem Pflichtteilsberechtigten überhaupt bekannt sind. Bereits dem Wortsinn und der ratio (Zweck) des Anspruchs aus § 2314 Abs. 1 S. 2 BGB muss zu irgendeinem Zeitpunkt der Pflichtteilsberechtigte in die Ermittlungstätigkeiten des Notars einbezogen werden, ferner muss auf Rückfragen des Pflichtteilsberechtigten in angemessener Weise eingegangen werden. Dem Pflichtteilsberechtigten als Auskunftsgläubiger muss ermöglicht werden, die Qualität der ihm zu erteilenden Auskunft besser beurteilen und besser einschätzen zu können, um zu entscheiden, ob er eine Versicherung an Eides statt der gemachten Angaben verlangen sollte. Die Kosten der Versicherung an Eidesstatt trägt gem. § 261 Abs. 3 BGB übrigens der Pflichtteilsberechtigte.
Ergebnis der Entscheidung und Auswirkungen
Im Ergebnis begründet deshalb das Zuziehungsrecht nach überwiegender Meinung ein Recht auf physische Anwesenheit des Pflichtteilsberechtigten bei der Aufnahme des Nachlassverzeichnisses (so auch der BGH, Beschluss vom 13.09.2018 – I ZB 109/17: „einen für die förmliche Aufnahme des Nachlassverzeichnisses bestimmten Termin“). Da das OLG München dem Pflichtteilsberechtigten die Anwesenheit in sämtlichen Terminen und in sämtlichen Stadien der Verzeichniserstellung nicht zugesteht und ihn gleichzeitig nicht in die Ermittlungsbelege des Notars blicken lässt, entzieht es dem Pflichtteilsberechtigten wesentliche Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns.
Im Ergebnis wird man zumindest den OLG-Bezirk München mit dieser Entscheidung zu kämpfen haben, wenn man den Pflichtteilsberechtigten vertritt. Aus Sicht des Erben wird die Verzeichniserstellung durch diesen Schritt „entspannter“. Es muss allerdings abgewartet werden, ob diese Entscheidung des OLG München wirklich Bestand haben wird und nicht durch Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte und ggf. eine Vorlage an den BGH, die das OLG München infolge der Nichtzulassung einer Rechtsbeschwerde leider unterbunden hat, relativiert werden wird.
Autor: Dr. Benjamin Schmidt, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Erbrecht in München und Konstanz